Bericht zur Grossratssitzung vom 10.11.2021

Bericht zur Grossratssitzung vom 10.11.2021

Download Votum Gesetz betreffend die Änderung des Gesetzes über die Volksschule (VG)

 

Berichterstatter: Kantonsrat Roland Wyss, Frauenfeld

 

Pünktlich um 09.30 Uhr begrüsst die Grossratspräsidentin zur halbtägigen Sitzung.

 

Es sind 124 Grossrätinnen und Grossräte anwesend.

 

Das Covidfenster der Regierung wird heute nicht benutzt, da es keine wesentlichen Änderungen gebe. Ich finde dies sehr speziell, gerade jetzt wo die Fallzahlen steigen und wir uns in der vom Bund initiierten Impfwoche befinden.

 

 

1. Gesetz betreffend die Änderung des Gesetzes über die Fischerei (20/GE 7/138)

2. Lesung

 

In der 2. Lesung gibt es keine Ergänzungen zum Gesetz. Die Diskussion wird nicht benutzt und ist stillschweigend genehmigt.

Die Redaktions- und Schlusslesung findet an der nächsten Sitzung statt.

 

 

2. Parlamentarische Initiative von Anders Stokholm, Karin Bétrisey, Barbara Dätwyler, Dominik Diezi, Stefan Leuthold, Christian Mader, Martin Salvisberg, Max Vögeli, Roland Wyss und Cornelia Zecchinel vom 2. Dezember 2020"Gesetz betreffend die Änderung des Planungs- und Baugesetzes" (20/PI 1/85)

Eintreten, 1. Lesung

 

Der Kommissionspräsident Anders Stockholm verweist auf den Kommissionsbericht und die umfangreichen Diskussionen für die Anpassung des Gesetzesartikels Art. 99 Absatz 11 vom PBG. Es soll nun möglich sein, Fahrnisbauten ohne Baubewilligungsverfahren bis zu einer Nutzungsdauer von maximal 3 Monate zu genehmigen. Damit diese nicht einfach erstellt werden können, wurde für Bauten mit einer Nutzungsdauer von mehr als 14 Tage eine Meldepflicht definiert, welche spätestens 14 Tage vor der Errichtung der Gemeindebörde eingereicht werden muss.

Das Eintreten war von den meisten Fraktionen unbestritten. Einzig die Grüne Partei hat betreffend der Nutzungsdauer einen Antrag angekündigt.

 

Dem Eintreten wird grossmehrheitlich zugestimmt.

 

Wie bereits erwähnt stellte die Grüne Partei den Antrag, die Standdauer auf 6 Wochen zu beschränken. Dieser Antrag wurde grossmehrheitlich abgelehnt.

 

Diskussion ist geschlossen, die erste Lesung ist somit abgeschlossen.

Die zweite Lesung findet an der nächsten Sitzung statt.

 

 

3. Interpellation von Marina Bruggmann, Edith Wohlfender und Peter Dransfeld vom 18. November 2020 "Betroffene Menschen im Testfall Münsterlingen – Das Dossier darf nicht einfach geschlossen werden" (20/IN 12/75)

Beantwortung

 

Die Interpellantin Marina Bruggmann stellt im Namen aller Interpellanten den Antrag auf Diskussion, welcher grossmehrheitlich zugestimmt wird.

 

Die Interpellanten weisen nochmals auf das zugefügte Leid an den Betroffenen hin. Der Kanton trägt dabei eine wesentliche Mitschuld an den durchgeführten Medikamententests. Sie verlangen eine sofortige Auszahlung von Entschädigungen, da die betroffenen Personen ihr Leben nie leben konnten.

 

Es ist ein trauriges Kapitel, welches der Kanton in einer Untersuchung aufgearbeitet hat. In den Voten wurden vor allem die Entschuldigung, die Gedenkstätte und die Entschädigung thematisiert, wobei die Meinungen stark auseinander gehen.

 

Die Regierung hat sich bei den Betroffenen entschuldigt. Nur, reicht dies so?

Für die Einen ist die Entschuldigung getan, für Andere noch zu wenig. Es wäre eine schöne Geste, wenn sich die Regierung nochmals um eine Aussprache bemühen und eine nochmalige Entschuldigung aussprechen würde.

 

Bei der Gedenkstätte musste zuerst der aktuelle Stand erläutert werden. Es stellt sich nicht die Frage ob diese erstellt wird, sondern wann. Bei der Planung und Umsetzung sind neben dem Kanton auch die Gemeinde Münsterlingen sowie Betroffene involviert. Das Mahnmal wird auf dem Gelände des altern Friedhofs erstellt und trägt zu einer Bewusstheit der geschehenen Vorfälle für die nächsten Generationen bei.

 

Gegen eine Auszahlung von Entschädigungsleistungen spricht sich im Rat niemand aus. Die grosse Mehrheit teilt aber die Meinung der Regierung, dass dies national aufgearbeitet und auch die Pharmaindustrie miteinbezogen werden muss.

 

Eine zusätzliche Aufarbeitung aus Sicht der Opfer wird sowohl gefordert, als auch für nicht zielführend angeschaut. Es ist wohl auch der schwierigste Punkt in der ganzen Thematik. Da ich weder Fachmann in diesem Gebiet bin und auch nicht in dieser Zeit gelebt habe (wenigsten in der Anfangszeit) kann ich es zu wenig beurteilen. Mir ist aber auch bewusst, welche Unsicherheit damals gegenüber psychisch Beeinträchtigten in der Gesellschaft vorhanden war. Eine grosse Mehrheit verwehrt sich nicht gegen eine weitere Aufarbeitung dieses schwierigen Themas, spricht sich aber für eine bundesweite Studie aus.

 

In Ergänzung zum umstrittenen Votum der Fraktion nimmt Christian Stricker für die EVP Stellung:

Studien werfen immer wieder neue Fragen auf. Von daher ist für uns die Schlüsselfrage: «Was hilft für morgen?» Als EVP erachten wir folgende Punkte als wichtig:

- 1. Eine kritische und differenzierte Aufarbeitung. Dabei hilft es, den Pionier und Klinikdirektor Roland Kuhn einzuordnen mit seinen Verdiensten und den schwierigen Entwicklungen seiner späten Wirkungszeit. Gleichzeitig schwingt ein kollektives Versagen mit im Umgang und der Bewertung der Patienten der «Seeseite». Der Kanton Thurgau setzte mit der aktuellen Aufarbeitung ein relevantes und ausreichendes Zeichen, das unterstützt in der gesamtschweizerischen Aufarbeitung.

- 2. Die Fähigkeit, Fehler einzugestehen und sich dafür zu entschuldigen. Damit wird ein wichtiger Ton im Raum zum Klingen gebracht.

- 3. Klare Zeichen wie das aktuell geplante Mahnmal, die ausdrücken, dass insbesondere alles darangesetzt werden muss, um die unwürdige Behandlung vulnerabler Personen u.a. auch von Kindern und Jugendlichen zu verhindern.

 

 

4. Interpellation von Doris Günter, Corinna Pasche, Didi Feuerle, Elina Müller, Elisabeth Rickenbach und Peter Schenk vom 21. Oktober 2020 "Schutz und Prävention im Milieu" (20/IN 9/60)

Beantwortung

 

Elisabeth Rickenbach vertritt die zurückgetretene Kantonsrätin Doris Günter als Interpellantin.

Die Beantwortung der IN Schutz und Prävention im Milieu fällt mit 10 Seiten umfangreich aus. Sie ist wohlwollend ausgefallen. Verbesserungspotential wird angetönt und gleichzeitig wird festgehalten: wir tun, was wir müssen und können, wir sind gut unterwegs – und -  wir haben nur wenige Betroffene und signalisiert damit, je nach Ohr, wie wir hören, es ist nicht so wichtig…

Unser Fazit: vieles ist schön formuliert und bleibt unkonkret. Deshalb beantragen wir Diskussion, um Widersprüche und Problemstellungen zu diskutieren und Verbesserungspotenzial zu erkennen und zu benennen.

Der beantragten Diskussion wird stattgegeben.

 

Ilka, eine Sozialarbeiterin in Ungarn, die sich um heimkehrende Frauen aus der Prostitution kümmert, kann die Haltung der Schweizer Behörden nicht verstehen und bringt es wie folgt auf den Punkt: «Sie behandeln die Frauen, als wären sie selbständige Unternehmerinnen. Doch das sind sie nicht und werden es nie sein. Irgendwo ist immer ein Zuhälter».

 

Ich stelle fest, im Milieu gibt es drei ganz unterschiedliche Player: der Staat, das Sexgewerbe, die SexarbeiterInnen.

Zum Staat: er ist statisch, hat Anlaufstellen, Angebote an fixen Orten, wie z.B. Perspektive, Beratungsstellen für Drogen, Fachstelle Opferhilfe, Fachstelle Integration des Migrationsamtes und neu seit 1.7.21 die Fachstelle Gewaltprävention. Diese sind da, haben aber kaum je Kontakt mit einer Sexarbeiterin!

In der Beantwortung ist zu lesen: Der Staat führt bei Bedarf einen runden Tisch, kann das FIZ einbeziehen bei Bedarf. D.h. die Fachstellen sind nicht regelmässig vernetzt!

Deshalb braucht es folgende Massnahmen:

  •  1x pro Jahr ein Austausch/runder Tisch: zum Thema: Was läuft aktuell, was sind die Trends, wo ist Bewegung drin…. Staatliche Akteure wie Kantonspolizei, Migrationsamt, Amt für Wirtschaft, Gewerbeinspektorat, Medizinische Dienste, Steuerverwaltung und private Akteure wie Perspektive Thurgau, Fachstelle Opferhilfe Thurgau (BENEFO), FIZ, Verein Blossom als aufsuchende Arbeit im Thurgau, müssten darin vertreten sein. Die Aufzählung ist nicht abschliessend.
  • Informationsmaterial z.H. den Gemeinden zum Abgeben. Es braucht Schulung der zuständigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Migrationsamt/auf den Gemeinden zum Thema Arbeitsverträge, Arbeitsbedingungen, Steuern, Krankenkassenkontrolle im Milieu.
  • Auftrag an Perspektive Gesundheit zur weiterführenden Begleitung in der aufsuchenden Arbeit und auch in sozialen und rechtlichen Fragen. Dies bedingt mehr Stellenprozente…

 

Zum Gewerbe/Sexgewerbe: Dieses zielt auf schnelle Wechsel, kurze Aufenthalte, Verschiebungen, unauffällig in Wohnungen, junge neue Frauen (jährlich neue Frauen in der Schweiz beträgt über 3000), viel interne Kontrolle/Überwachung, überall Kameras (wofür? zur Sicherheit, zur Überwachung?!)

 

Auf dieser Ebene wird der Gewinn eingefahren. (z. B. mit dubiosen Arbeitsverträgen, auch mal 50:50!? Mieten von 900.- pro Woche)

Das Gewerbe interpretiert die Regeln grosszügig, macht, was dem Gewinn dient, Kontrollen werden umgangen wo immer möglich.

 

Massnahmen hier:

  • Es braucht Verbesserung und Ausbau der polizeilichen Kontrollen. Dies hat der RR auch erkannt. Und dass Kontrollen die den Gemeinden zufällt, wahrgenommen werden. Z.B. nicht schlanke Bürokratie, indem die ID Papiere per Post zugestellt werden, da sie dann dem Zuhälter in die Hand gespielt werden… und Macht geben

 

Zu den Sexarbeiterinnen: Sie können nicht uneingeschränkt lesen und schreiben, sie stehen unter hohem wirtschaftlichem Druck, auch wenn sie z. T. wissen, auf welche Arbeit sie sich einlassen. Es besteht ein Abhängigkeitsverhältnis. Mit Drogenkonsum und Alkohol wird das Leben meistens bewältigt. Handlungsfreiheit/Eigenverantwortung ist auf Grund der mangelnden Sprachkenntnis, Ortskenntnis, Bildung, Rechtskenntnis z.B. in Bezug auf Steuern, Krankenkasse… schwierig.

Massnahmen hierzu:

  • Höheres Schutzalter: Diese Tätigkeit darf nicht die erste Ausbildung, der erste Beruf einer Schulabgängerin sein!! Angebot von realen Alternativen: Arbeitsplätzen mit psychologischer/sozialer Begleitung
  • Aufsuchende Arbeit 

Hier zeigt sich ein Spagat zwischen den Interessen des Betreibers und den Bedürfnissen der Frau. Praktisch alle Gespräche finden in überwachten Räumen statt.  Aber nur mit der aufsuchenden Arbeit werden die Frauen überhaupt erreicht!

Diese drei unterschiedlichen Player stehen in einem Spannungsverhältnis, in dem das schwächste Glied, die Sexarbeiterin, unter die Räder kommt: Massnahmen in diesem Gewerbe müssen sich am schwächsten Glied ausrichten, nicht an der schlanken Verwaltung, am freien Gewerbe!!

 

 

Im Spannungsfeld dieser sehr unterschiedlichen Player ist der Tatbestand der Förderung von Prostitution aus Prinzip relativ schnell erfüllt, auch wenn er sehr schwer nachzuweisen ist. Kriterien sind Abhängigkeit, Vermögensvorteil und Festhalten in der Prostitution (StGB; SR 311.0)

Abhängigkeit ist gegeben durch die mangelnde Sprachkenntnis, fehlende Ortskenntnis, mangelnde Bildung und Rechtskenntnis. Sie können nicht uneingeschränkt lesen und schreiben, stehen unter hohem wirtschaftlichem Druck.

Vermögensvorteil: zeigt sich mit Hohen Mieten, Arbeitsverträgen zugunsten des Zuhälters bis zu eindeutigem Wucher.

Hinderung an Rückkehr zu einem anders gestalteten Leben: Aus dem Steckbrief einer durchschnittlichen Sexarbeiterin lässt sich herauslesen, was eine solche Person brauchen würde, um in Freiheit ein anders gestaltetes Leben zu wählen!!!!! Die realen Alternativen fehlen hier in der Schweiz sowieso und im Herkunftsland sehr oft auch. Wer macht sich somit strafbar?

 

Von vielen Seiten wird betont, dass die Vernetzung der bestehenden Fachstellen besser sein kann und muss. Auch eine verstärkte aufsuchende Sozialarbeit und ein Erstgespräch, wie in anderen Kantonen bereits praktiziert, sollte Pflicht des Staates sein. So könnte bereits früh zum Beispiel auf arbeitsrechtliche Lücken eingegangen oder Krankenkassenbeiträge überprüft werden. Auch eine verstärkte Kontrolle durch die Polizei könnte dazu beitragen, im Sinne einer Prävention die Arbeitsbedingungen der Sexarbeiterinnen und ihre Rechte zu verbessern.

 

Menschenhandel ist verboten, Prostitution nicht. Wo ist hier die Grenze zu ziehen? Ist dies überhaupt möglich? Wann endet das Eine, wann beginnt das Andere?

Auch wenn es nicht alle gleichsehen, findet eine Vermischung statt. Dabei kommt es nicht darauf an, wie gross die Schnittmenge ist. Menschenhandel darf es nicht geben!

 

Auch die Regierung sieht, dass noch einiges getan werden muss. Die verstärkte Zusammenarbeit der Fachstellen und niederschwellige Anlaufstellen müssen ausgebaut werden.

 

 

Zum Schluss verliest die Präsidentin noch die Neueingänge und schliesst die Sitzung um kurz vor zwölf.

 

Nach der individuellen Mittagspause treffen wir uns um 14. 00Uhr zu einer ausserordentlichen Fraktionssitzung. Das Thema ist der Voranschlag 2022.